Fachkräftemangel und Leadership
VI: Herr Smole, in Ihrem Buch «Souverän führen» betonen Sie die Bedeutung souveräner Führung. Wie kann ein solcher Führungsstil Unternehmen dabei unterstützen, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken?
David Smole: Studien wie Gallup zeigen, dass 75 Prozent der Mitarbeitenden ihren Vorgesetzten als den stressigsten Teil ihres Jobs empfinden. Zudem vertrauen laut Edelman Trust Barometer 2023 58 Prozent der Mitarbeitenden ihrem Vorgesetzten nicht. Diese Faktoren tragen entscheidend zur Unzufriedenheit am Arbeitsplatz und zur Kündigungsbereitschaft bei. Fachkräftemangel ist also oft hausgemacht. Früher reichte ein Titel, damit Menschen Leistung erbrachten. Heute erwarten Mitarbeitende souveräne Führungspersönlichkeiten, die Orientierung geben und inspirieren.
Souveräne Führung schafft Vertrauen und Motivation. Niemand möchte unter einer Führungskraft arbeiten, die willkürlich handelt, nur Befehle erteilt oder aus Unsicherheit blockiert. Wir alle hatten wohl schon einmal einen Mentor, der uns positiv geprägt hat. Was diese Mentoren auszeichnet, ist ihre Souveränität – sie wirkt ansteckend und inspirierend. Diese Eigenschaften prägen nicht nur das Arbeitsumfeld, sondern strahlen auf das gesamte Unternehmen aus.
Welche spezifischen Leadership-Strategien empfehlen Sie, um qualifizierte Fachkräfte nicht nur zu gewinnen, sondern auch langfristig zu binden?
Klare Werte sind der erste Schritt. Mitarbeitende brauchen Orientierung – besonders in unsicheren Zeiten. Werte geben Halt, und darauf aufbauend entstehen klare Regeln für die Zusammenarbeit. Über allem sollte ein sinnstiftendes Warum stehen, das Energie und Motivation freisetzt.
Eine gute Führungskraft braucht zudem Menschenkenntnis, um Mitarbeitende nach ihren Stärken einzusetzen. Es macht keinen Sinn, einen Torhüter im Sturm spielen zu lassen, nur weil man seine Stärken nicht erkennt. Genauso wichtig ist der Fokus auf das grosse Ganze: Wo wollen wir hin? Ohne klare Ziele und Prioritäten verliert man sich leicht in Krisen oder kurzfristigen Erfolgen. Am Ende zählt die konsequente Übernahme von Verantwortung. Klare Standards müssen nicht nur definiert,sondern auch gelebt und weiterentwickelt werden.
Gehören Initiativen wie Corporate Social Responsibility (CSR) dazu? Unterstützen solche Ansätze dabei, Fachkräfte zu halten?
Absolut. CSR macht Werte sichtbar und erlebbar – das ist entscheidend. Es geht immer um das Warum: Warum tun wir, was wir tun? Mein persönliches Warum ist es, Menschen zu befähigen, Führung richtig gut zu machen und dadurch zufrieden nach Hause zu gehen. Natürlich spielt wirtschaftlicher Erfolg eine Rolle, doch wenn das Warum stärker ist, treibt es alles andere an.
Ein Beispiel: Als wir unser Büro neu gebaut haben, haben wir auf Nachhaltigkeit gesetzt – z.B. gefiltertes Trinkwasser zur Vermeidung von Plastikflaschen. Das zeigt den Mitarbeitenden, dass wir unsere Werte ernst nehmen. Sie spüren, dass diese nicht nur leere Worte sind, sondern aktiv gelebt werden. Genau das ist essenziell: Viele Unternehmen reden über Werte, setzen sie jedoch nicht um. Dieser Widerspruch ist ein Hauptgrund, warum Menschen Firmen verlassen.
Proaktives Handeln
Sie sprechen von der Notwendigkeit, aus einer passiven Haltung herauszukommen und aktiv zu handeln. Welche Schritte sollten Führungskräfte unternehmen, um eine Kultur des proaktiven Handelns in ihren Teams zu etablieren?
Viele Menschen fühlen sich von äusseren Umständen abhängig, ähnlich wie Fluchttiere, die instinktiv reagieren. Doch wir Menschen haben die Freiheit, auf äussere Reize bewusst zu reagieren. Genau darin liegt unser Potenzial: Proaktivität entsteht, wenn wir uns nicht von Umständen leiten lassen, sondern unseren Werten und Zielen treu bleiben.
Wirklich proaktive Menschen konzentrieren sich auf ihren Einflussbereich – auf das, was sie tatsächlich verändern können. Sie verschwenden keine Energie mit Lamentieren über das, was nicht geht, sondern fragen sich: Was kann ich konkret tun? Diese Denkweise gilt es auch im Team zu fördern. Offenheit für andere Meinungen, neue Wege und Chancen – selbst in Krisenzeiten – ist dabei entscheidend. Wer diese Haltung verinnerlicht, handelt automatisch lösungsorientiert.
Wie können Führungskräfte ihre eigene Einstellung verändern, um von einer negativen Sichtweise zu einer lösungsorientierten Perspektive zu gelangen?
Der Schlüssel liegt darin, Schuldzuweisungen und Ausreden hinter sich zu lassen. Statt zu fragen: Wer ist schuld?, sollten wir uns auf die Bedingungen konzentrieren, die erfüllt werden müssen, um ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen.
Ein Beispiel: Kinder sagen oft: Mama hat mir kein Eis gekauft, also ist sie schuld, dass ich keins habe. Der eigentliche Grund ist jedoch, dass eine Bedingung nicht erfüllt wurde: Das Kind hat das Zimmer nicht wie besprochen aufgeräumt. Statt Schuld zu suchen, sollten wir fragen: Welche Bedingungen können wir beeinflussen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen?
Bedeutet das, Führungskräfte sollten mehr Yoga machen oder meditieren?
Es geht weniger um Yoga selbst als um die Fähigkeit, sich und das eigene Steuersystem besser zu verstehen. Viele von uns sind ständig beschäftigt, arbeiten 14 Stunden am Tag und verlieren dabei den Blick für das Wesentliche. Praktiken wie Meditation oder Yoga können helfen, neue Perspektiven zu gewinnen, sich selbst bewusster wahrzunehmen und damit sein eigenes, inneres Steuersystem proaktiv nutzbar zu machen. Dabei geht es nicht um Esoterik, sondern um wissenschaftlich fundierte Ansätze, um das eigene Steuersystem im Griff zu haben. Innere Klarheit ist grundlegend, um Veränderungen aktiv und nachhaltig anzugehen.
Mitarbeiterbindung und Motivation
In Zeiten des Fachkräftemangels ist die Bindung bestehender Mitarbeiter entscheidend. Welche Methoden empfehlen Sie, um die Loyalität und Motivation von Teams zu steigern?
Loyalität beginnt bei der Glaubwürdigkeit der Führungskraft: Bin ich integer? Handle ich in Übereinstimmung mit den gemeinsamen Werten? Wesentliche Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Respekt und Transparenz schaffen Vertrauen. Dieses Vertrauen bildet die Grundlage für Loyalität und langfristige Bindung.
Für mehr Motivation sollte man sich meiner Meinung nach primär darauf konzentrieren, Demotivation zu vermeiden. Menschen wollen von Natur aus leisten – sonst hätten wir als Kinder nie das Laufen gelernt. Doch viele Führungskräfte demotivieren ihre Teams durch fehlende Freiräume oder mangelnde Unterstützung. Intrinsische Motivation kann nicht durch Boni ersetzt werden – vielmehr ist gegenseitiges Vertrauen entscheidend.
Aus meiner Sicht sind zwei Faktoren entscheidend: Erstens die Glaubwürdigkeit der Führungskraft, die Vertrauen aufbaut, und zweitens die Vermeidung von Demotivation. Diese beiden Elemente sind der Schlüssel zur langfristigen Bindung von Mitarbeitenden.
Wie wichtig ist die Anerkennung und Wertschätzung der Mitarbeiterleistung in diesem Kontext, und wie kann diese effektiv umgesetzt werden?
Anerkennung und Wertschätzung sind zentrale Themen. Viele Führungskräfte beklagen fehlende Wertschätzung von oben, während ihre Mitarbeitenden sich ebenfalls nicht anerkannt fühlen. Doch für die meisten Menschen sind Lohn und Beförderung nicht das Wichtigste. Ich begleitete einen Fall, bei dem ein «Stänkerer» ständig mehr Gehalt forderte. Nach einem intensiven Gespräch, in dem ihm zugehört wurde, war das Thema erledigt – ohne Gehaltserhöhung. Er erkannte, dass viele seiner Frustrationen auf Missverständnissen basierten.
Wertschätzung zeigt sich in der Integrität der Führungskraft: Stimmen ihre Werte mit ihrem Verhalten überein? Fühlt sich der Mitarbeitende respektiert und sicher? Diese Faktoren wirken stärker und langfristiger als Boni oder Beförderungen. Gespräche und persönliche Interaktion schaffen langfristig Vertrauen und Zufriedenheit.
Manche Führungskräfte sehen Gespräche als Zeitaufwand. Doch das ist wie bei Gewohnheiten: Eine schlechte Angewohnheit, wie das tägliche Essen einer Tüte Chips, mag kurzfristig angenehm sein, führt jedoch langfristig zu Problemen. Eine gute Angewohnheit, wie fünf Minuten in einen Mitarbeitenden zu investieren, mag zunächst mühsam erscheinen, zahlt sich langfristig jedoch aus – durch bessere Zusammenarbeit, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen. Diese Ergebnisse entstehen ausschliesslich durch Interaktion. Führungskräfte müssen mit den Menschen in ihren Teams reden, um Vertrauen aufzubauen. Es gibt keinen Ersatz dafür.
Herausforderungen meistern
Welche häufigen Herausforderungen begegnen Führungskräften bei der Umsetzung Ihrer empfohlenen Strategien, und wie können diese überwunden werden?
Die grösste Herausforderung ist, lähmende oder unproduktive Glaubenssätze zu überwinden – sei es bei sich selbst oder im direkten Umfeld. Solche Glaubenssätze erzeugen Widerstände, die oft unüberbrückbar erscheinen, und Führungskräfte erkennen häufig nicht, was die wahre Ursache dafür ist.
Glaubenssätze erleichtern uns grundsätzlich das Leben. Ein positiver Glaubenssatz wäre zum Beispiel: Wenn ich die Türklinke herunterdrücke, öffnet sich die Tür. Doch negative Glaubenssätze entstehen oft durch einzelne negative Erfahrungen, die falsch interpretiert werden. Ein Beispiel: Ein Mitarbeitender wird von seinem Chef kritisiert, nachdem er einen Vorschlag gemacht hat. Der Glaubenssatz «Vorschläge machen lohnt sich nicht» kann daraus entstehen und blockiert ihn künftig.
Der Schlüssel liegt darin, solche Glaubenssätze zu erkennen und infrage zu stellen. Das erfordert Verständnis für verschiedene Menschentypen und deren Verhaltensweisen. So reagieren beispielsweise gewissenhafte Personen, wie Ingenieure, sensibel auf Kritik und neigen bei Unsicherheit zu Pessimismus. Andere Menschen handeln impulsiv und stürmen «mit dem Kopf durch die Wand». Eine Führungskraft muss solche Typen erkennen und Gespräche individuell gestalten. Durch gezielte Fragen können Glaubenssätze hinterfragt, neue Denkweisen angestossen und schliesslich produktive Glaubenssätze etabliert werden.
Können Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrer Praxis teilen, in dem ein Unternehmen durch die Anwendung Ihrer Methoden erfolgreich dem Fachkräftemangel begegnet ist?
Ja, ich erinnere mich an einen Hotelier in Österreich im Jahr 2022. Sein Betrieb litt nach der Corona-Pandemie unter Personalmangel, insbesondere im Restaurant. Er hatte Glaubenssätze wie: «Niemand will mehr in der Gastronomie arbeiten, vor allem nicht auf dem Land.» Diese Denkweise lähmte ihn.
Im Training haben wir zunächst Verhaltenstypen analysiert, seine Werte geklärt und betriebliche Regeln neu definiert. Bereits nach wenigen Wochen änderte sich das Betriebsklima so positiv, dass die Mitarbeitenden begonnen haben, in ihrem Bekanntenkreis aktiv für das Unternehmen zu werben. Am Ende des 16-wöchigen Trainings waren alle Stellen besetzt, der Chefkoch war wieder motiviert und innovativ, und es gab sogar eine Warteliste für Bewerbungen im Service.
Der Hotelier sagte später: «Früher habe ich Menschen mit meinen Ängsten vergrault, heute setzen sich Leute wegen mir auf eine Warteliste.» Das zeigt, wie stark persönliche Entwicklung die Wahrnehmung eines Unternehmens beeinflussen kann.
Wie sieht es bei Berufen aus, bei denen Menschen eher leistungsorientiert und weniger sozial orientiert sind, beispielsweise in technischen Berufen?
Der Mechanismus ist derselbe, egal ob Gastronomie, IT oder Industrie. Ich hatte zum Beispiel einen IT-Unternehmer, der ein sehr emotional getriebener Mensch war. Dieses Verhalten vergraulte seine besten Leute – die Entwickler konnten mit seiner Art nicht umgehen. Mit dem Training entwickelte er innere Ruhe und Gelassenheit. Ein Jahr später hatte er seinen besten Jahresabschluss, eröffnete einen weiteren Standort in Berlin und zog neue Talente an – allein durch Mundpropaganda.
Das gleiche Prinzip gilt auch in anderen Branchen. Ich erinnere mich an eine Kundin, die als Finanzchefin in eine «verstaubte» Abteilung wechselte. Ihr Team bestand aus pessimistischen Buchhaltern, die jede Veränderung blockierten. Nach dem Training wusste sie, wie sie mit solchen Menschentypen umgehen muss, und schaffte es, in der Abteilung Motivation für Veränderung auszulösen und neu zu beleben. Am Ende galt ihre Abteilung als Vorzeigeeinheit, und ihr Nachfolger wurde darauf hingewiesen, welches «Erbe» er antreten würde.
Es läuft immer darauf hinaus: Sobald Führungskräfte aufhören, Menschen durch ihr Verhalten zu vergraulen, beginnen sie, Talente anzuziehen – wie ein Magnet. Das ist unabhängig von der Branche. Zukunftsperspektiven Wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung des Fachkräftemangels, und welche Rolle wird Leadership dabei spielen?
Oft werden Fachkräfte zur Führungskraft befördert, weil sie in ihrem Fachgebiet herausragend sind. Doch das reicht nicht mehr aus. Ein schönes Beispiel ist Jürgen Klopp. Als Trainer begeistert er Teams und Fans gleichermassen – obwohl er als Spieler nicht zu den besten gehörte –, weil er Menschen inspiriert.
Der Schlüssel liegt darin, ein Leadership-System aufzubauen, das unabhängig von Einzelpersonen funktioniert, wie Steve Jobs es bei Apple vorgemacht hat. Noch Jahre nach seinem Tod bleibt Apple ein begehrter Arbeitgeber, weil er eine klare Werteorientierung und ein stabiles System hinterlassen hat, welches nicht von der Person an der Spitze abhängig ist. Das sollten sich viele Firmen zum Vorbild nehmen.
Welche Fähigkeiten sollten Führungskräfte Ihrer Meinung nach in den kommenden Jahren besonders entwickeln, um den Herausforderungen des Arbeitsmarktes gewachsen zu sein?
Wenn ich drei Fähigkeiten hervorheben müsste, wären das folgende:
- Menschenkenntnis: Führungskräfte müssen ihre Mitarbeitenden verstehen – was sie antreibt und wie sie ticken. Nur wer sein Gegenüber versteht, kann im nächsten Schritt dafür sorgen, selbst verstanden zu werden. Ohne diese Basis bleibt Kommunikation ineffektiv und führt zu Missverständnissen und Demotivation.
- Klarheit bei den Werten: Führungskräfte müssen wissen, warum sie etwas tun und wohin sie wollen. Diese Werteorientierung hilft nicht nur, als Vorbild zu agieren, sondern gibt auch dem Team klare Orientierung. Ein Beispiel ist Hermann Maier, der als Skifahrer durch seine kompromisslose Haltung bezüglich seiner Ziele nicht nur selbst erfolgreich war, sondern auch sein Umfeld zu Höchstleistungen und Innovationen motivierte.
- Umgang mit Gefühlen: Führungskräfte müssen lernen, ihre eigenen Gefühlszustände und die ihrer Mitarbeitenden zu verstehen. Gefühle wie Frust oder Wut sind oft Energiefresser, können jedoch – richtig interpretiert – zu einem Motor für positive Veränderungen werden. Frust beispielsweise zeigt häufig, dass man kurz vor einem Ziel steht und es jetzt Beharrlichkeit benötigt. Wer diese Botschaften richtig erkennt und produktiv nutzt, kann Ziele effektiver erreichen. Es reicht nicht, Zertifikate oder theoretisches Wissen anzuhäufen. Ohne emotionale Intelligenz, Werteorientierung und Menschenkenntnis wirken selbst die besten Businessmodelle leblos. Führungskräfte, die diese Qualitäten entwickeln, schaffen ein Arbeitsumfeld, in dem Mitarbeitende gerne 100 Prozent geben – nicht nur 60.
Sie meinen, diese Transformation kann jeder durchlaufen und damit andere inspirieren?
Genau. Jeder kann auf seine Weise ein Leuchtturm sein. Sie tun das zum Beispiel mit diesem Interview, indem Sie anderen Denkanstösse geben – etwa über Werte, Demotivation oder Glaubenssätze nachzudenken. Das inspiriert zur Veränderung. In meinen Gedanken sehe ich vor meinem geistigen Auge eine «dunkle» Stadt mit wenigen Leuchttürmen. Meine Aufgabe sehe ich darin, immer mehr Licht zu schaffen – Führungskräfte zu befähigen, werteorientiert zu handeln, zufrieden nach Hause zu gehen und ihre Teammitglieder positiv zu beeinflussen. So entsteht eine Kettenreaktion, von der alle profitieren. Weil ein Licht ein ganzes Netzwerk erhellen kann.